Es ist eine E-Mail, die eine Ära beendet: „Amazon Fresh wird ab dem 14. Dezember 2024 nicht mehr verfügbar sein.“ Mit diesen nüchternen Worten verabschiedete sich der weltgrößte Online-Händler am Mittwochnachmittag aus dem deutschen Lebensmittel-Liefergeschäft in seiner bisherigen Form. Im Laufe des Tages wurden zunächst Lieferanten und nachmittags auch Kund:innen in den von Fresh bislang versorgten Städten Berlin und Potsdam, Hamburg und München über das Aus informiert (Betreff: „Wichtige Informationen zu Amazon Fresh“).
Was 2017 als ambitionierter Versuch gestartet war, den deutschen Lebensmitteleinzelhandel grundlegend aufzumischen (siehe Supermarktblog), endet sieben Jahre später nun – in einer schlichten Kund:inneninformation. Auf Supermarktblog-Anfrage bestätigt eine Amazon-Deutschland-Sprecherin die Einstellung:
„Wir haben unser Angebot und unser Logistik-Netzwerk in Deutschland evaluiert und beschlossen, unser Lebensmittelangebot auf Amazon.de zu vereinfachen und uns auf unser umfangreiches und wachsendes Geschäft mit haltbaren Lebensmitteln zu konzentrieren.“
Kund:innen könnten auf Amazon.de weiter deutschlandweit Millionen Artikel des täglichen Bedarfs einkaufen, „darunter zehntausende haltbare Lebensmittel, die schnell oder sogar noch am selben Tag geliefert werden“.
Keine treibende Kraft im deutschen Markt
In der vergangenen Woche hatte Amazon zudem eine Partnerschaft mit dem bisherigen Wettbewerber Knuspr gestartet, von dem sich Prime-Mitglieder via Amazon Lebensmittel innerhalb von drei Stunden liefern lassen können (siehe Supermarktblog) – zuerst in Berlin, später in Frankfurt am Main, München bzw. perspektivisch auch in Hamburg.
Außerdem bleibe die Partnerschaft mit Tegut – zumindest aus Amazon-Sicht – davon unberührt, heißt es. (Wie es mit Tegut weitergeht, ist selbst ungewiss: Am Donnerstag hat die Mutter Migros einen umfassenden Stellenabbau, Filialschließungen und den Abgang des bisherigen Geschäftsführers Thomas Gutbverlet bekannt gegeben.)
Zur Wahrheit gehört aber auch: Die ernsthafte Anstrengung, Fresh zur treibenden Kraft im deutschen Lebensmittel-Liefergeschäft zu machen, war schon vor längerer Zeit aufgegeben bzw. nie richtig konsequent verfolgt worden. Die Fresh-Expansion in weitere deutsche Städte, die dafür notwendig gewesen wäre, ist über all die Jahre ausgeblieben.
Auch die Suche nach dem richtigen Logistikmodell geriet zwischenzeitlich zum Abenteuer (siehe Supermarktblog): Nach der Trennung von DHL als Lieferpartner ließ der größte Online-Händler der Welt Lebensmitteleinkäufe vorübergehend von Privatpersonen mit deren Pkw via Amazon Flex ausliefern – während man gleichzeitig in den Aufbau eines umfangreichen Logistiknetzwerks für sein Hauptgeschäft investierte.
Hohe Investitionen, wenig Erfolg
Zuletzt wurde im Hintergrund zwar weiter stetig an der Optimierung des Einkaufserlebnisses gearbeitet (Ersatzartikel-Funktion, Wiederholungslieferungen). Und es hätte durchaus nahe gelegen, Amazon Fresh – wie in Großbritannien – auch für Nicht-Prime-Mitglieder zu öffnen, um eine größere Zielgruppe ansprechen zu können. Diese Chance bleibt nun ungenutzt.
Stattdessen bedeutet die Ankündigung, sich in Deutschland auf das Geschäft mit haltbaren Lebensmitteln zu konzentrieren, einen tiefen Einschnitt. Denn die Einstellung von Fresh in Deutschland ist mehr als nur das Ende eines weiteren Lieferdienstes: Sie markiert das vorläufige Scheitern von Amazons großangelegter Strategie, länderübergreifend auch im Lebensmitteleinzelhandel zur dominanten Kraft zu werden.
In diese Strategie hatte der Konzern weltweit Milliarden investiert – mit erstaunlich überschaubarem Erfolg.
Die Übernahme von Whole Foods Market 2017, die vermeintlich revolutionäre Just-Walk-Out-Technologie in den Amazon-Go-Store, die Fresh-Supermärkte als Versuch, einen konventionellen Supermarkt neu zu denken – keine der Anstrengungen erwies sich als durchschlagender Erfolg. Denn was in der Theorie schlüssig wirkte und Amazon von der hohen Frequenz im Handel mit Lebensmitteln profitieren lassen sollte, entpuppte sich in der Realität als sehr viel komplizierter.
Technologie ist nicht alles
Die Entscheidungen und Strategiewechsel der vergangenen Monate lassen sich wie eine Chronik der kontinuierlichen Planänderungen lesen:
- Im Frühjahr 2024 stampfte Amazon seine Just-Walk-Out-Technologie in größeren Supermärkten wieder ein, um sich auf kleinere Convenience-Läden zu konzentrieren – die deshalb aber auch kein Selbstläufer waren.
- Stattdessen schloss Amazon erst vor wenigen Wochen mehrere Amazon-Go-Filialen in New York und gab zu, dass sich diese nicht wirtschaftlich betreiben ließen.
- Im Sommer gab man den Rückzug des Fresh-Lieferdienstes in mehreren britischen Städten bekannt.
- Vor zwei Wochen verließ dann der langjährige Grocery-Chef Tony Hoggett das Unternehmen.
- Und nun also das Aus für Fresh in Deutschland.
Was ist schiefgelaufen bei Amazons großem Lebensmittel-Experiment?
Vielleicht steht die Geschichte von Amazons Just-Walk-Out-Technologie symbolisch für die grundsätzlichen Probleme des Tech-Giganten im LEH: Der Glaube, alleine komplexe technische Lösungen könnten traditionelle Handelskonzepte revolutionieren, erwies sich als kostspieliger Irrtum.
Amazon hat auf die harte Tour gelernt
Zahlreiche Einkäufe in den kassenlosen Stores mussten von Teams in Indien manuell überprüft werden. Die technologische Ausstattung für Just Walk Out wurde zwar günstiger, aber nicht in dem Maße, wie man es intern als Ziel ausgegeben hatte. Und dann zeigten sich auch noch die Kund:innen wenig begeistert davon, zum Einkaufen eine App zu benötigen – was steige Anpassungen des Modells nötig machte (siehe Supermarktblog).
Amazon lernte auf die harte Tour: Innovation im Handel muss nicht zwangsläufig hochkomplex sein. In Zukunft sollen u.a. die Dash Carts, smarte Einkaufswagen mit Scanner, in den neu konzipierten US-Fresh-Supermärkten ihren Zweck erfüllen. Nach einem zwischenzeitlichen Expansionsstopp werden inzwischen auch wieder neue Filialen eröffnet.
Gleichzeitig hadert man im Heimatmarkt weiterhin mit einer konsistenten Strategie. Weil Whole Foods Market mit seinem auf Bio-Lebensmittel fokussierten Sortiment nicht so massenmarktfähig ist, wie es notwendig wäre, versucht Amazon verschiedene Ansätze: In Chicago eröffnete vor wenigen Wochen erstmals das ergänzende Format „Amazon Grocery“ (siehe Supermarktblog).
Und in Plymouth Meeting entsteht das erste automatisierte Micro-Fulfillment-Center in einem Whole Foods, das Bestellungen von Amazon Fresh, Whole Foods und Amazon.com gemeinsam abwickeln soll.
Hohe Hürden im deutschen Markt
In Großbritannien scheint man nicht so recht zu wissen, was sich mit dem bisherigen Netz an stationären Fresh-Convenience-Märkten im Raum London anfangen lässt. Im Zusammenspiel mit Fresh gibt es dort aber immerhin eine ernstzunehmende Basis im Lebensmittelgeschäft.
Dazu ist es in Deutschland nie gekommen.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Anders als im E-Commerce traf der Konzern hierzulande auf hocheffiziente Handelsketten, die auch Bereitschaft zeigten, ihre Hausaufgaben in Sachen Digitalisierung zu machen. Rewe, Edeka und Co. haben nicht nur eigene Lieferdienste oder sich rechtzeitig bei aufstrebenden Start-ups eingekauft, sondern modernisieren auch ihre stationären Formate kontinuierlich.
Dazu kommt die ausgeprägte Preissensibilität deutscher Kund:innen – eine Eigenschaft, die sich schlecht mit den hohen Kosten des Amazon-Fresh-Modells vertragen haben dürfte. Die für den US-Markt entwickelten Konzepte ließen sich nicht einfach übertragen. (Selbst die Partnerschaft mit Tegut war bislang nur eine Randnotiz.)
Kleinere Formate, fokussierte Märkte
Die aktuelle Entwicklung deutet auf eine fundamental veränderte Ausrichtung von Amazons Lebensmittelstrategie hin. Anstatt das Rad neu zu erfinden, scheint der Konzern nun eher auf bewährte Handelskonzepte setzen zu wollen.
Die zuletzt eingeführten massiven Prime-Rabatte bei Fresh in den USA zeigen, dass man bereit ist, doch noch im Preiswettbewerb mitzuspielen. Auch die Einführung eines vergünstigten Jahresabos für Lebensmittel-Lieferungen (99,99 Dollar für unbegrenzte Lieferungen über 35 Dollar) zielt in diese Richtung. Die neue Discount-Eigenmarke „Amazon Saver“ könnte die Abkehr vom Premium-Fokus einläuten.
Was bedeutet das für die Zukunft? Amazon wird den Lebensmittelhandel nicht aufgeben – dafür ist der Markt zu groß und zu wichtig. Aber in Seattle hat man wohl erkannt, dass die Revolution des Lebensmitteleinzelhandels komplexer ist als die des Buch- oder Elektrogerätehandels.
Die neue Strategie setzt auf Evolution statt Revolution: kleinere Formate, fokussierte Märkte, pragmatische Technologien. Oder halt, wie in Deutschland: den Verkauf haltbarer Lebensmittel über die Hauptseite. Interessant wird vor allem, ob bzw. wie sehr Amazon nun Partnerschaften mit etablierten Handelsketten bzw. Lieferdiensten vorantreibt, die über eigene „Storefronts“ auf Amazon.de verkaufen können.
Wie wichtig werden die „Storefronts“?
Das Modell existiert bereits seit 2015, als Morrisons in Großbritannien erster Partner wurde. Bei Amazon heißt es dazu:
„[D]ieser Launch hat unseren Ansatz, wie wir den Zugang zu Lebensmittellieferungen für Kund:innen ausweiten können, maßgeblich verändert.“
Heute habe man Partnerschaften mit Lebensmittelhändlern auf der ganzen Welt, neben Morrisons auch Iceland und Co-op in Großbritannien; Pam Panorama und Monoprix in Europa; Save Mart, Weis Market, Bristol Farms und Metropolitan Market in den USA; Watson’s und Little Farms in Singapur; LIFE, Valor, Arcs, Marukyo und Seijo in Japan; Lulu Group in Dubai; und neuerdings Jüsto in Mexico. Mit der Knuspr-Kooperation demonstriert man zudem die Flexibilität, das Modell weiter zu öffnen und auch Partner an Bord zu holen, die über eine eigene Lieferlogistik verfügen.
So könnte das Aus für Fresh in Deutschland mittelfristig gesehen sogar für positive Impulse sorgen: z.B. wenn Handelsketten, die sich bislang gegen eine Kooperation gesträubt haben, eigene „Storefronts“ auf Amazon.de eröffnen, um Kund:innen einen zusätzlichen Einkaufskanal zu bieten.
Neuer Konkurrent am Horizont?
Dass der neue, sehr viel bescheidenere Ansatz mehr Erfolg haben wird, gilt aber keineswegs als ausgemacht. Zumindest wenn man den überraschenden Abgang von Tony Hoggett, bisher Senior Vice President of Worldwide Grocery Stores, in den USA deuten möchte.
Interessant ist vor allem, wohin es Hoggett gezogen hat: zum US-Startup Wonder. Das wurde von Marc Lore gegründet, einem Serial-Entrepreneur (der vor allem dafür bekannt ist, dass er Jet.com für 3,3 Milliarden Dollar an Walmart verkauft hat). Wonder verfolgt einen neuen Ansatz für Essenslieferungen, indem es die komplette Kontrolle über den gesamten Prozess übernimmt, von der Rezeptentwicklung bis zur Auslieferung.
Das Unternehmen arbeitet mit bekannten Köch:innen und Restaurants zusammen, die ihre Rezepte zur Verfügung stellen oder exklusive Konzepte entwickeln. Diese Gerichte werden dann von Wonder so modifiziert, dass sie in kleinen Küchen mit minimaler Ausrüstung schnell zubereitet werden können. Pro Standort können bis zu 30 verschiedene Restaurantkonzepte parallel betrieben werden.
Das Start-up hat bereits 1,5 Milliarden Dollar eingesammelt, davon 300 Millionen von Lore selbst, und plant einen Börsengang in den nächsten fünf Jahren mit einer anvisierten Bewertung von 30 Milliarden Dollar.
Partnerschaft oder Konkurrenz?
Vor genau einem Jahr hatte Wonder den amerikanischen Meal-Kit-Anbieter Blue Apron übernommen, und dessen Produkte ins eigene Angebot integriert. Gerade hat Wonder bekannt gegeben, der Amsterdamer Just-Eat-Takeaway-Gruppe den US-Lieferanbieter Grubhub abzukaufen. Wenn der Deal voraussichtlich im ersten Quartal 2025 abgeschlossen sein wird, verfügt Wonder über ein landesweites Logistik-Netzwerk, das bei der weiteren Expansion eine zentrale Rolle spielen könnte.
All das zahlt auf die Vision von Lore ein, der erklärt hat, aus Wonder eine „Super-App“ für Mahlzeiten und damit eine Art „Amazon of Food“ machen zu wollen.
Noch ist längst nicht ausgemacht, ob Wonder das gelingt, was Amazon bislang versagt geblieben ist: eine Revolution der Art und Weise, wie Menschen Lebensmittel einkaufen und konsumieren. Vor allem aber ist unklar, was das bedeutet: Partnerschaft oder Konkurrenz?
Visionen schmieden jetzt die anderen
Dank einer umfassenden Kooperation mit Grubhub können Amazon-Kund:innen in allen US-Bundesstaaten ihre Essensbestellungen seit diesem Frühjahr direkt über Amazon aufgeben, ohne die Grubhub-App herunterladen oder wechseln zu müssen. Prime-Mitglieder bekommen zudem kostenlos Zugang zu Grubhub+ für kostenlose Lieferungen. Mal sehen, wie gut man sich in Zukunft versteht, wenn der Grubhub-Eigentümer gewechselt hat.
Die Ironie könnte jedenfalls größer kaum sein: Während Amazon seine großen Ambitionen im Lebensmittelhandel Stück für Stück eindampft, könnte ausgerechnet ein Ex-Amazon-Manager mit Wonder nun das verwirklichen, woran sein früherer Arbeitgeber gescheitert ist.
Derweil wird der deutsche Lebensmittel-Liefermarkt seinen eigenen Weg finden müssen – ohne den bisherigen Haupt-Angstgegner der Branche. Die wirklich großen Visionen müssen jetzt halt andere schmieden.
Danke an Marco!
Auch nach dem Rückzu von Walmart hat die dt. Branche einen Weg gefunden.
Was soll das bedeuten?
Ddas bezieht sich auf den letzten Absatz des Artikels.
Es soll bedeuten, daß der dt. LEH keinen US-Konzern benötigt um Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.
Naja, im Lieferbereich hat Deutschlands größter Lebensmitteleinzelhandel ein niederländisches Start-up benötigt, um überhaupt Fuß zu fassen (dessen Strategie derzeit testweise von Aldi kopiert wird), und vorher erfolglos den Dienst eines Wettbewerbers übernommen, der danach von der tschechischen Konkurrenz geschluckt wurde. Bin mir nicht sicher, ob der Walmart-Vergleich da passt.
So schade. Ich mochte Amazon Fresh, war wöchentlicher Kunde ab der ersten Kunde. Aber der Niedergang war über all die Jahre zu spüren, sukzessive haben sie alle Frischprodukte aufgegeben. Waren das noch Zeiten, als man Aufschnitt in Schnittdicke bestellen konnte. Zuletzt gab es nicht einmal frische Champignons.
Was mache ich nun? Mal sehn. PicNic ist nicht meln Fall, ich finde die fisseligen Plastiktüten und die den Lieferanten aufgezwungenen Tragekisten nicht gut, möchte nicht nur per App bestellen, und ausserdem sagt mir das Edeka-Sortiment einfach nicht zu.
Aber die Ankündigung hier aus dem Blog, dass Knuspr demnächst nach Hamburg kommt, und mit Amazon kooperiert, gibt mir Hoffnung.
Sonst halt REWE – verbunden mit der neugierigen Frage, ob REWE den Lieferdienst an Flink verkauft, oder Flink kauft und zu REWE Express macht.
Rewe ist immer noch die einzig sinnvolle Variante bei den Lieferdiensten. Meiner Meinung nach ist Rewe mit seinem Konzept bis jetzt so gut gefahren (im wahrsten Sinne) da sie als einzige auch in die Fläche gehen und nicht nur innerhalb eng gehaltener Stadtgrenzen liefern. Wenn man den Großteil der Kunden in Deutschland von vorn herein ausschließt hat man es auch nicht besser verdient als zu scheitern…
Schade, dass es Fresh irgendwann nicht mehr gibt. Wobei Knuspr über Amazon ein vollwertiger Ersatz ist, wie ich gemerkt habe. Manches besser, manches schlechter. Größter Nachteil, dass man den Standort des Fahrers nicht sieht. Dafür sind Obst und Backwaren besser.
Ich kann übrigens weiterhin zwischen Fresh und Knuspr wählen und kann auch für Heiligabend ein Fresh-Lieferfenster auswählen. Knuspr geht nur drei Tage im Voraus. Seltsam.
Fresh macht in Berlin zumindest aktuell weiter Abverkauf (jedoch ohne Rabatte, wohl deswegen zögert man noch). Aber das Ende ist nah, bei Obst findest du zb. nur noch 2 Sorten Bananen und Johannisbeeren. Quasi ein Tod auf Raten (bis 31.12.?).